Nr. 110/2019

32 HUMBOLDT KOSMOS 110/2019 FORSCHUNG HAUTNAH Verhältnisse hochbetagten Frau droht der Scheiterhaufen. Die brennen im ganzen Land: Allein zwischen 1580 und 1650 kommen imHeiligen Römischen Reich 25 000 Men- schen so zu Tode, die meisten von ihnen sind ältere Frauen. Als das Verfahren gegen Katharina Kepler sich hinzieht, wenden sich selbst ihre Kinder von ihr ab – nur der älteste Sohn hält noch zu ihr. Johannes Kepler ist 45 Jahre alt und als kaiserlicher Astronom und Entdecker der elliptischen Umlaufbahnen der Planeten ein bekannter Mann. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens setzt er ein Jahr aus und nimmt die Verteidigung seiner Mutter in seine Hand. Schließlich wird die geschundene und doch unbeugsame Frau freigesprochen. LEBENSPRALLE SZENEN UND ZITATE Ulinka Rublacks Buch über diese wenig bekannte Seite des großen Naturforschers erschien 2015 auf Englisch, wurde prämiert und in mehrere Sprachen übersetzt. Die deutsche Ausgabe kam 2018 unter demTitel „Der Astronom und die Hexe“ heraus. Das fachlich fundierte und fesselnd geschrie- bene Werk handle nicht bloß vom Keplerschen Prozess, loben die Rezensenten, es weite den Blick auf eine zwischen Magie und wissenschaftlichem Denken schwankende Gesellschaft am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Es ist ein überzeugendes Bild, das Ulinka Rublack mit lebensprallen Szenen und Zitaten, Hintergrundinforma- tionen und Analysen zeichnet. Zu verdanken ist das auch der einmaligen Quellenlage im Fall Kepler: Über den Pro- zess bewahrt das Hauptstaatsarchiv Stuttgart zwei dicke Bände auf, mit denen die Historikerin sich bei mehr­ wöchigen Aufenthalten eingehend beschäftigte. Ihr Fazit: „Es ging in diesen Verfahren nicht primär um einzelne Personen, sondern um Familien, die ihre Ehre verteidig- ten.“ Johannes Kepler habe Schmach von der Mutter abwenden wollen und mindestens ebenso sehr um sein eigenes Ansehen gekämpft. Den eigenen Ruf konnte Kepler retten, über seine Mutter jedoch ergoss sich die Häme der Nachwelt. In Berichten, Romanen und Musiktheaterstücken – etwa in Paul Hindemiths Oper „Die Harmonie der Welt“ – wird sie immer wieder als streitsüchtige, missgünstige Alte darge- stellt. Ulinka Rublack hingegen entwirft das Bild einer cou- ragierten Frau ohne Schulbildung, die sich und ihre Kinder in einer derben Welt weitgehend allein durchbringen muss. Dieser Eindruck ent- steht nicht nur beim Lesen des Buchs, sondern auch, wenn man die darauf basie- rende Oper „Kepler’s Trial“ auf sich wirken lässt. Das 2016 uraufgeführte Stück entstand binnen eines Jahres an der Universität Cambridge – als Teamproduktion, an der sich Mathematiker, Astronomen und Historiker beteiligten. KEPLER-PROZESS AUCH ALS OPER Im Internet ist die einstündige Oper komplett verfügbar; einzelne Passagen daraus nutzt Ulinka Rublack gelegentlich für szenische Lesungen vor allgemein interessiertem Pub­ likum. Was sie an den multimedialen Formaten reizt? Die Geschichtswissenschaftlerin überlegt einen Moment und sagt: „Es geht mir um die Momente verdichteter Erkennt- nis. Ich liebe es, solche Momente zu schaffen und Kultur nicht bloß zu analysieren, sondern auch selbst zu gestalten.“ Derzeit arbeitet ein britisches Filmteam an der Kino- version des Kepler-Buchs. Geplante Premiere: 2021. Bis dahin wird sich wohl auch entschieden haben, ob Ulinka Rublack und ihr Mann – er lehrt Geschichte in London – in Großbritannien bleiben oder nach Deutschland über- siedeln. Der drohende Brexit werfe seine Schatten voraus, sagt sie, auch an Elitehochschulen wie Cambridge: „Wir erhalten weniger internationale Bewerbungen von Pro- fessoren und Studenten und der Zugang zu Fördermitteln wird schwieriger.“ IN DIESEN VERFAHREN GING ES PRIMÄR UM FAMILIEN, DIE IHRE EHRE VERTEIDIGTEN.“ HEXENVERBRENNUNG in zeitgenössischer Darstellung

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