Nr. 110/2019

30 HUMBOLDT KOSMOS 110/2019 W olfenbüttel, an einem regnerischen Nach- mittag im Frühling. An den langen Tischen im Lesesaal der Herzog August Biblio- thek sitzen nur wenige Wissenschaftler; sie blättern in alten Schriften und tippen Notizen in ihre Laptops. In der ersten Reihe beugt sich eine Frau mit langem, hellblon- dem Haar über ein ledergebundenes Buch. Das muss sie sein, Ulinka Rublack: Ge­ schichtsprofessorin im britischen Cambridge, Reimar Lüst-Preisträgerin und Autorin der hoch- gelobten Rekonstruktion des Hexenprozesses gegen die Mutter von Johannes Kepler, deren Verteidigung der berühmte Astronom selbst übernahm. Rublack ist Expertin für die europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. „Die Zeit zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert ist eine der großen Epochen des Um- bruchs“, sagt die 52-jährige Historikerin und erinnert an die Reformation und die Medienrevolution, die der Buch- druck auslöste, das Aufkeimen der Naturwissenschaften, an große Entdeckungsreisen und die beginnende Globa- lisierung. Damals richteten die Fürsten an ihren Höfen Experimentierstuben ein und füllten Wunderkammern mit Korallen, Kristallen und Kuriositäten aus aller Welt. Beschafft wurden sie von kunstsinnigen Kaufleuten wie Philipp Hainhofer aus Augsburg, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die zunehmende Nachfrage nach ori- ginellen Objekten bediente. Um ihn und sein weitgespann- tes Netzwerk in ganz Europa geht es im nächsten Buch der Historikerin. Und deshalb reist sie in diesen Monaten so häufig nachWolfenbüttel. Denn nur in der Augusta, so FORSCHUNG HAUTNAH Mit ihrem Buch über den Astronomen Johannes Kepler, der seine Mutter in einem Hexenprozess verteidigte, erregte sie Aufsehen. Die Historikerin Ulinka Rublack rekonstruiert aus alten Quellen ein spannendes Bild der Frühen Neuzeit, in der Aberglaube auf Wissenschaft trifft. Text  LILO BERG der Kurzname der berühmten Bibliothek, sind die um 1600 entstandenen gut 50 Bände mit Aufzeichnungen von Hain- hofer zugänglich. Der Kunsthändler führte über alles Buch – ob es die Eindrücke auf Reisen nach Italien oder Pom- mern waren, das Warenangebot von Handelsmessen oder seine Gedanken zum Stellenwert der Malerei im Zeitalter von Kunst- und Wunderkammern. „ZumGlück sind die meisten Bücher in gut leserlicher Frakturschrift verfasst“, sagt Ulinka Rublack. Anders bei der Korrespondenz Hainhofers: Um ein paar Seiten der oft schnell hingeworfenen Zeilen zu verstehen, ist schon mal ein ganzer Arbeitstag erforderlich. Die Historikerin sitzt dann in der Bibliothek und überträgt große Teile des Originalmanuskripts in ihre Unterlagen. Dabei, so berich- tet sie, spüre sie denThemen nach, die sich aus den Quellen ergeben und setze sie in Beziehung zu ihren Forschungs- fragen. Beobachten konnte sie diese Arbeitsweise bei ihrem Vater, einem Tübinger Reformationshistoriker. „Er war ein wunderbar ausdauernder und quellennaher Wissen- schaftler, der stets neue Perspektiven auf die Geschichte entwickelte“, berichtet Rublack, die nahe Tübingen gebo- ren wurde. Später, als sie in Hamburg studierte, habe er ihr Interesse an der Frühen Neuzeit geweckt und immer wieder neu belebt – auch als sie Mitte der 1990er-Jahre ihre Arbeit am St. John’s College aufnahm und in Cambridge Wurzeln schlug. „Mein Vater verstand es, Abstand und Unterstützung richtig zu dosieren“, sagt die Mutter von zwei Kindern im Teenageralter. „Und“, ergänzt sie dank- bar, „er hat mein Vertrauen in meine Originalität gestärkt.“ Der Mut zu eigenen Sicht- und Herangehensweisen ist es denn auch, der Ulinka Rublack internationales Renom- mee eingebracht hat. Sie ist Mitglied der British Academy, HEXEN, WUNDERKAMMERN UND MODENARREN

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