Nr. 110/2019

Foto: Humboldt-Stiftung/Mario Wezel 27 HUMBOLDT KOSMOS 110/2019 V iele erinnern sich noch gut an ihre Schulzeit und das Ritual des Zeugnistags. Da saß man und blickte je nachdem frohgemut oder beklommen auf seine frisch ausgehändigten Noten. Meist bekam man ungefähr das, was man erwar- tet hatte. Manchmal gab es eine enttäuschende Fünf statt der erhofften Vier. Echte positive Überraschungen – eine Eins anstelle der erwarteten Drei – kamen selten vor. Nun haben die von der Humboldt-Stiftung geförderten ausländischen Gastforscherinnen und Gastforscher Deutschland ein Zeugnis aus- gestellt. Die Rückmeldungen der Umfrage „Deutschland von außen“ sind ein Grund zur Freude. Von der Wissen- schaftsfreundlichkeit und der Forschungsinfrastruktur über Toleranz, Fortschrittlichkeit und Demokratie bis zur Gleichberechtigung der Geschlechter – die Noten sind alle sehr gut. Selbst der Humor, die Kinderbetreuung, ja sogar die Bahn werden gelobt. „Deutsche Bahn is the best in the world“, schreibt ein Stipen- diat aus Indien. Spätestens hier reibt sich der Leser erstaunt die Augen. Deutschland gleicht einem Musterschüler, der neben der berechtigten Eins inMathematik auch gleich noch ein völ- lig unerwartetes Sehr gut in Sport bekommen hat. Des Rätsels Lösung ist die regionale Brille, durch die Deutsch- land betrachtet wird: Je nachdem aus welcher Weltregion die Forschenden stammen, erscheinen manche Dinge hierzulande nicht so negativ, wie sie aus der kritischen Binnensicht wirken. Das kann helfen, die eigene Perspek- tive geradezurücken. Lob und Tadel müssen vor dem Hintergrund regiona- ler Erfahrungen und Erwartungen eingeordnet werden. Die Humboldt-Geförderten kommen buchstäblich aus aller Welt, aus über 140 Ländern. Sie beurteilen Deutsch- land vor allem im Vergleich zu ihrer Heimat. So erleben asiatische Humboldtianerinnen und Humboldtianer die Deutschen als ausgesprochen offen, Geförderten aus Süd- amerika dagegen erscheinen die Deutschen eher als reser- vierte Typen. Indische, chinesische oder amerikanische Stipendiaten schätzen die Betreuungsangebote für Kinder positiv ein, Australier oder Skandinavier weniger. Diese Erkenntnisse können ein wertvoller Kompass sein für zielgruppengerechtes Forschungsmarketing, das im regionalen Vergleich besondere Stärken hervorhebt. Zugleich lässt sich erkennen, worauf besonders zu achten ist, damit sich Gäste aus bestimmten Ländern bei uns wohlfühlen. Ganz unabhängig von der regionalen Erfahrung der Befragten werden der Forschungsinfrastruktur, der For- schungsförderung und allgemein der Wissenschafts- freundlichkeit sehr gute Noten ausgestellt. Das gleiche gilt für die Internationalität, die auch dank der Exzellenzin- itiative gestiegen ist. Das sollte uns Ansporn sein, diesen Weg konsequent weiter zu beschreiten. Aber es gibt auch Kritikpunkte, die von einer Mehrheit der Befragten ganz unabhängig von ihrer Herkunft ange- sprochen werden: vor allem die Bürokratie, Sprachbar- rieren, die Perspektiven des wissenschaftlichen Nach- wuchses und die soziale Einbindung imAlltag, gele- gentlich auch die zu starre Hierarchie in der deutschen Forschung. Auch die ver- einzelten, aber unüberhörbaren Rückmeldungen zu Er- fahrungen von Ausländerfeindlichkeit stimmen besorgt. Das Erstarken rechtsextremer und populistischer Bewegungen bleibt unseren Gästen aus dem Ausland nicht verborgen. Dieser Zeugnistag ist also mindestens ebenso ein Grund zur Freude wie zumNachdenken. Wir dürfen froh sein über das viele Lob und die großen Stärken in der inter- nationalen Standortkonkurrenz. Damit lässt sich werben! Doch die Kritik an Bürokratie und Nachwuchsperspekti- ven zeigen, wo der Musterschüler Deutschland dringend besser werden muss. PROFESSOR DR. HANS- CHRISTIAN PAPE ist Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung und leitet das Institut für Neurophysiologie der Universität Münster. KOMMENTAR MUSTER- SCHÜLER MIT AUS­ REISSERN von  HANS-CHRISTIAN PAPE

RkJQdWJsaXNoZXIy NTMzMTY=