Nr. 110/2019

kennenlernen, aber doch die ihnen vertrauten Strukturen in ihrer Heimat vermissen“, ana- lysiert Nanay. Bis sie die Besonderheiten des Gastlandes wirklich mögen können, durch- laufen sie eine Phase von Akkulturations- stress. Sie müssen sich durchfragen und ler- nen, sich zurechtfinden, indem sie gute und schlechte Erfahrungen sammeln. Aufgrund der kulturspezifischen Prägung der eigenen Wahrnehmung und des Mere- Exposure-Effekts sehen wir das Gastland immer durch die Brille unserer eigenen Erfah- rungen. Wir vergleichen die Kita-Angebote, die Betreuung durch den Professor und den Umgang mit anderen Wissenschaftlern mit einem internalisierten Kulturstandard, glaubt Alexander Thomas. „Für einen Chinesen bei- spielsweise wird die Betreuung durch einen hiesigen Professor sehr gewöhnungsbedürftig sein“, so Thomas. „In China ist Privates und Arbeit vermischt. Ein chinesischer Professor ist auch bei einer seelischen Krise der väterli- che Ansprechpartner.“ LAND DER DEADLINES UND MEILENSTEINE Auch typische deutsche Kulturstandards las- sen sich aus den Rückmeldungen von Ange- hörigen verschiedener Nationen destillieren, so Thomas. So wirkt die Arbeitswelt hier­ zulande sehr strukturiert. Zeitplanung mit Deadlines undMeilensteinen spielt eine große Rolle. Die Zusammenarbeit folgt vielen, mit- unter unausgesprochenen Regeln. In der Kom- munikation ist Direktheit undWahrhaftigkeit im Rahmen der Höflichkeitsnormen gefragt. Ein Mitarbeiter kann eine kritische Haltung, etwa zu einem Vorschlag seines Professors, offen äußern. Im arabischen Kulturraum würde dies vielfach einem ehrverletzenden Aufbegehren gegen eine Autorität gleichkom- men. Erst bei längeren Aufenthalten kommt man mit andersartigen Kulturstandards in Berührung. Unterschiedliche Denk- und Handlungsmuster werden dann offenbar und irritieren in der Begegnung. „Der Gastwissen- schaftler muss mit unerwarteten Reaktionen und unvorhergesehenem Verhalten rechnen“, sagt Thomas, „und er muss ein hohes Maß an Toleranz und Empathie mitbringen, um sich allmählich in der anderen Kultur einzufinden.“ UNBEWUSSTE ORIENTIERUNGS- SYSTEME In unserem eigenen Kulturraum haben wir im Laufe des Lebens ein unbewusstes Orientie- rungssystem erworben. Es umfasst hochkom- plexe, nirgendwo niedergelegte Verhaltens- und Sprachregeln, eine Art überlieferter, sich ständig weiterentwickelnder Alltagsknigge. Wir wissen, wen wir zur Begrüßung umarmen dürfen, wie wir uns vorstellen und was zu einer Doktorfeier gehört. Ob Engländer, Franzosen oder Spanier – alle Ausländer sind dagegen zunächst orientierungslos im deutschen unge- schriebenen, komplizierten Orientierungssys- tem. Mit französischen Begrüßungsküsschen würden sie ihre Gastgeber irritieren. Einfach über den Tisch herüber mit den Gästen vom Nebentisch zu reden wie in Italien, wäre recht erstaunlich, und beim leisesten Klang spani- scher Musik in jedem Lokal zu tanzen, ob mit oder ohne Tanzfläche, ist garantiert aufsehen- erregend. Mit den Deutschen komme man nur schwer in Kontakt, bedauerten viele Stipendi- aten. So gut Deutschland als Forschungsstand- ort abschneidet, so mäßig ist der Notenschnitt für die private Ebene. Nicht verwunderlich: Da sind die Sprachbarriere, das fremde Ori- entierungssystem und dann noch die Eigen- heit der Deutschen, eher distanziert gegenüber Fremden aufzutreten. Trost bietet da ein Ste- reotyp, dem Alexander Thomas oft begegnet ist: „Wer endlich mühsam einen Deutschen als Freund gewonnen hat, hat einen echten Freund. Auch diese Weisheit kursiert über uns in anderen Ländern.“ PROFESSOR (EM.) DR. ALEXANDER THOMAS ist Humboldt-Gastgeber und eme­ ritierter Professor für Sozial- und Organisationspsychologie an der Universität Regensburg. Er ist der Verfasser von Standard­ lehrwerken zu dem von ihm entwickelten Begriff des Kultur- standards und zur interkulturel- len Handlungskompetenz. Foto: Markus Meilinger SCHWERPUNKT 26 HUMBOLDT KOSMOS 110/2019 So gut Deutschland als Forschungsstandort abschneidet, so mäßig ist der Notenschnitt auf der privaten Ebene.“ „

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