Nr. 110/2019

E in Studienaufenthalt in einem ande- ren Land ist immer ein Wagnis. Mit imGepäck reisen Erwartungen, Vor- urteile, mindestens zwei Jahrzehnte Lebenserfahrung aus einem anderen Kultur- raum und damit eine oft unbewusste Prägung des Verhaltens, der Werte und Vorlieben. „Eine interkulturelle Begegnung kann deshalb ungemein bereichern, über den bisherigen Horizont hinaus“, sagt Alexander Thomas, emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der Universität Regensburg. „Sie kann aber auch irritieren und scheitern.“ Wie man das Gastland findet und darin zurechtkommt, hängt von vielen Faktoren ab. Schon die bloße Wahrnehmung von Men- schen und Ereignissen ist viel individueller, als wir ahnen. Selbst Grundlegendes wie Far- ben und Formen können unterschiedlich auf- genommen werden, obwohl alle Menschen mit Stäbchen und Zapfen sehen, die Biologie der Sinneswahrnehmung also eine univer- selle Basis hat. „Aber das, was wir sehen, ist Ergebnis eines Hirnprozesses. Dieser wird schon vorgeburtlich und dann fortdauernd über unsere Erfahrungen geprägt“, erklärt Bence Nanay, Philosoph an der Universität Antwerpen. DER EINE SIEHT FISCHE, DER ANDERE LUFTBLASEN Wie groß die Differenzen in der Wahrneh- mung sein können, lehren kulturverglei- chende Experimente. So stellten Forscher fest, dass Himba, eine indigene Bevölkerung Nord- namibias, die Ebbinghaus-Täuschung ganz anders wahrnehmen als Durchschnittseuro- päer. Die optische Täuschung zeigt zwei gleich große Kreise. Einer davon ist von kleineren Kreisen umringt, der andere von größeren. Letzterer erscheint uns dadurch deutlich klei- ner als sein Zwilling. Die Himba aber fallen auf den Einfluss des Drumherums kaum her- ein. Sie erkennen recht präzise, dass beide Kreise im Zentrum denselben Radius haben. Das hat einen tieferen Grund: In der Sprache der Himba existiert kein Wort für Kreis. Runde Objekte spielen in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Auch die visuelle Wahrnehmung von Asi- aten und Menschen westlicher Kulturen klafft deutlich auseinander. Das belegenmittlerweile viele Untersuchungen: „Wo unsere Augen nur einen Fisch im Aquarium und damit nur das zentrale Objekt ausmachen, erkennen Asiaten zusätzlich Details aus der Umgebung, wie die aufsteigenden Luftblasen im Wasser und die Pflanzen“, veranschaulicht Nanay. Diese ganz- heitlichere Wahrnehmung führen Experten wie der amerikanische Psychologe Richard Nisbett auf ihre kollektivistische Gesell- schaftsform zurück, in der das „Wir“ viel wich- tiger ist als das „Ich“. Hierzulande dominiert dagegen der Individualismus. WIR MÖGEN, AN WAS WIR GEWÖHNT SIND „Im Laufe des Lebens wirken Menschen auf uns ein, die uns nahe sind. Zuerst die Eltern, dann wird der Kreis der Bezugspersonen immer größer und das, was wir für normal halten, festigt sich“, erklärt Nanay. Je öfter wir etwas sehen, hören oder erleben, desto eher kann sich eine Vorliebe dafür entwickeln. Sogar Teilnehmer eines Seminars finden sich umso sympathischer, je häufiger sie sich in einem Kurs begegnet sind – selbst, wenn sie nicht miteinander gesprochen haben. Wir mögen am ehesten, an was wir gewöhnt sind. Dieser Zusammenhang ist so gut belegt, dass er als Mere-Exposure-Effekt in zahllosen Lehrbüchern der Psychologie beschrieben ist. „Der Mere-Exposure Effekt führt dazu, dass ausländische Gastforschende vielleicht neugierig und offen unser Gesundheitssystem PROFESSOR DR. BENCE NANAY erhielt für seine Leistun- gen in der Philosophie der Wahrnehmung, Ästhetik und Philosophie des Geistes 2016 den Friedrich Wilhelm Bessel- Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung. Als Professor für Philosophie an der Universität Antwerpen, Belgien, ist er unter anderem Co-Direktor des Centre for Philosophical Psychology. An der Schnittstelle von Philosophie, Psychologie und Kognitionswissenschaft gilt Nanays Interesse besonders der Ästhetik als einer Philosophie der Wahrnehmung. Fotos: Getty Images/Georg Simmerstatter Photography (li.), David Robert Evans 25 HUMBOLDT KOSMOS 110/2019 Je öfter wir etwas sehen, hören oder erleben, desto eher kann sich eine Vorliebe dafür entwickeln.“ „

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