Nr. 113/2021

Foto: Frank Röth 21 HUMBOLDT KOSMOS 113/2021 S chauplatz ist die größte akute Gesundheits- krise seit den Weltkriegen: Auf dem Gipfel ihres Schaffens, bekommen die harten Wissenschaf- ten plötzlich weiche Knie. Auf einem Berg von mehr als einer halben Million Publikationen, geschaffen in wenig mehr als einem Jahr, vor sich die Täler einer ent- fesselten Aufmerksamkeitsindustrie, die ihre Held*innen anscheinend am liebsten stürzen sieht. Die Coronafor- schung steht auf schwindeligen Höhen und steckt zugleich tief in der Klemme. Aber nicht nur sie. Die Tragödie ist grö- ßer. Denn in die Lage, in der sich die Wissenschaften auf einmal wieder- finden, sind sie nicht nur von außen hineingedrängt worden. Der pas- sende Begriff dafür lautet Sloppy Sci- ence . Damit ist hier nicht die schlam- pige, schlechte Forschung gemeint, die sie schon immer im Rucksack mit sich getragen hat. Vielmehr geht es um die Schwächen einer Wissenschaftskultur, die in der Großkrise besonders zum Tragen gekommen sind. Um eine Flut von Veröffentlichungen – genauer: Pre- prints und Vor-Vorveröffentlichungen – geht es, die eigentlich noch gar nicht öffentlich sein sollten, weil sie oft Unausgegorenes enthal- ten oder Unbelegtes behaupten. Auch um kurzatmige Dis- kurse geht es, die den experimentellen und damit vorläufi- gen Charakter jeder Forschung zwar erkennen lassen, aber nicht über ihre inhärenten Unsicherheiten aufklären, son- dern Verunsicherung schaffen. Und um die schiere Gel- tungssucht. Kurz: Es geht um Halbgares und Prahlerei, die viele inzwischen nach der wahren Krisenkompetenz der Wissenschaften fragen lassen. Um allzu Menschliches also, könnte man sagen. Tatsächlich exponiert sich die Wissenschaft so mitt- lerweile breit über die sogenannten sozialen Medien, die längst selbst Zweifel an ihrer Sozialverträglichkeit erken- nen lassen. Für das nüchterne Selbstverständnis und das Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs ist die Selbst- überschätzung durch Sloppy Science allerdings etwas, das sich vielleicht am besten mit dem Kanzlerinnenwort vom „Neuland“ beschreiben lässt. Die Selbstsicherheit der Institution jedenfalls ist dahin. Was auch in der Außen- wahrnehmung tiefe Spuren hinterlässt. Beispielhaft ist die andauernde Debatte um den Ursprung des Pandemie­ virus. Seit Beginn der Krise bläst den Forscher*innen bei der Frage, ob es ein natürlicher Übergang auf den Men- schen oder ein Laborunfall war, der scharfe Wind der Des- information ins Gesicht. Angefacht von Rechtspopulist*innen in Gesellschaft und Politik, ja, auch von Regierungen mit eiskaltem Kalkül. Eine grundsätz- lich wissenschaftliche Frage, die hoch- politisch aufgeladen wurde, die sich aber ohne sorgfältige, zeitraubende Untersuchungen nicht beantworten lassen wird. Statt dies anzuerkennen und zu vermitteln, lassen sich rund um den Globus Wissenschaftler*innen in Scharen vor den einen oder anderen Karren spannen. Ein anderes Beispiel: Fallzahl-Prognosen. In der Öffentlich- keit ist die Rolle der Expert*innen als Zukunftsdeuter*innen gefragt wie nie. Die Wissenschaft hingegen – eine Par- allelwelt voller Skepsis. Evidenz-Ikone und Datenspezialist John Ioannidis etwa hat sich früh fest- gelegt, dass die auf Computermodellen basierenden Vor- hersagen des Infektionsgeschehens Müll sind, während er selbst das mühsame Geschäft mit lückenhafter Empi- rie öffentlichkeitswirksam betreibt. Gleichzeitig lassen Forscher*innen in hochrangigen Journalen nicht davon ab, die Prognosemodelle zu verbessern. Dabei ist klar: Schei- tern gehört zum Geschäft. ImMoment der globalen Krise allerdings bekommt diese Selbstverständlichkeit, je länger sie dauert, den Außenanstrich von Inkompetenz. Vertrauen erodiert, genau wie das Selbstvertrauen. Vielleicht ist des- halb denWissenschaften, allenWissenschaften zusammen, am besten gedient, wenn sie ähnlich wie in der Klimafor- schung den wirklich großen Krisen mit einer großen, einer leicht digital zu vernetzenden Kompetenzagentur entgegen- treten. Aber das müssten sie schon selbst organisieren. JOACHIM MÜLLER-JUNG leitet das Ressort „Natur und Wissenschaft“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. MEINUNG KURZATMIGE WISSENSCHAFT Als Zukunftsdeuterin ist die Wissenschaft gefragt wie nie. Doch halbgare Veröffentlichungen untergraben ihren Ruf. Sie selbst muss etwas ändern.

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