Nr. 116/2024

30 31 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 FORSCHUNG HAUTNAH unter anderemNelsonMandela lange Jahre inhaftiert war, ist heute ein Museum; einstige politische Gefangene bie- ten Führungen an. Eine Solaranlage trägt zur sauberen Stromgewinnung bei und sozioökonomische Initiativen in Form eines Handwerkszentrums unterstützen Angehö- rige ehemaliger Gefangener. Labadi sagt: „Wer Natur- und Kulturerbe in afrikanischen Ländern erfolgreich und jen- seits kolonialer Strukturen managen will, muss ganzheit- lich denken.“ Zwar werde über Natur- und Kulturerbe als Mittel zur Armutsbekämpfung nachgedacht, etwa durch Tourismus. Doch noch immer existiere die neokolonialis- tische Haltung, Tourist*innen aus dem globalen Norden könnten ein Ende der Armut herbeiführen, so Labadi. Ein- heimische würden oft so ausgebildet, dass sie in prekären Jobs vor allem Bedürfnisse von Ausländer*innen erfüllen, etwa als Reiseleiter*innen oder als Servicekräfte in Res- taurants oder Hotels, die überwiegend im Besitz Wei- ßer sind. Labadi sagt: „Der Tourismus muss ernsthaft überdacht werden, damit er den lokalen Gemeinschaften Vorteile bringt.“ FORSCHUNG IN DER PRAXIS IhreTheorien und Erkenntnisse prägen nicht nur den aka- demischen Diskurs, sondern zudem die Praxis der Natur- und Kulturerbeverwaltung weltweit. So arbeitet Labadi mit internationalen Organisationen wie der UNESCO oder der Weltbank und mit Regierungen von Ländern wie Südkorea zusammen. Sie berät etwa bei der Entwicklung von Stra- tegien im Bereich Natur- und Kulturerbe, bei Veröffentli- chungen oder bei neuen Lehrplänen zum Thema Kultur- erbe und Museen. „Dieser Blick in die Praxis bereichert meine Arbeit enorm und führt mich immer wieder zu neuen Forschungsfragen“, sagt Labadi. „Meine Forschung soll einen Nutzen haben und sich gesellschaftlichen He- rausforderungen widmen“, erklärt sie weiter. „Als Wissen- schaftlerin habe ich auch eine soziale Verantwortung. Mir erscheint es unmöglich, mich nicht mit den Problemen des realen Lebens zu befassen.“ Was Labadi außerdemwichtig ist: dass mehr afrikanische Erbestätten anerkannt werden. „Seit Beginn meiner Forschung befinden sich noch immer über die Hälfte der Welterbestätten in Europa – diese kolo- niale Symbolik muss dringend abgebaut werden.“ MIT DER EIGENEN IDENTITÄT VERKNÜPFT Eigentlich wollte Labadi anfangs nicht zu Themen wie Kolonialismus oder Diversität forschen. „Erst als ich meine erste feste akademische Anstellung bekam und später die volle Professur, begann ich damit.“ Als erste Frau mit afri- kanischem Hintergrund erhielt Labadi, die als Kabylin Angehörige einer indigenen Berbergruppe aus Algerien ist, 2019 eine Professur für Kulturerbe in Großbritannien. „Das war ein historischer Moment für mich, nicht nur wegen meiner Herkunft, sondern auch, weil ich die erste Akademikerin aus einer Familie bin, die der sogenann- ten lower class angehörte.“ Erst als sie sich sicher war, dass die akademische Welt ihren Namen fest mit der Kultur- erbeforschung verbindet, fing sie an, zu Migrations- und Gerechtigkeitsthemen zu arbeiten –Themen, die auch mit ihrer eigenen Identität verknüpft sind. „Mir war es sehr wichtig, nicht in eine Schublade gesteckt zu werden – als Wissenschaftlerin mit Migrationshintergrund, die nur zu Kulturerbe- und Migrationsthemen arbeitet.“ Für ihr Buch „Museums, Immigrants, and Social Jus- tice“ untersuchte sie in Fallstudien, wie Museen dazu bei- tragen können, zentrale Probleme von Einwanderer*innen anzugehen. Labadi führt das Beispiel der dänischen Nati- onalgalerie an: In einem sechswöchigen Beschäftigungs- programm für Sprachschüler*innen erarbeiteten die Teil- nehmenden dort Interpretationen zu Kunstwerken ihrer Wahl und trugen sie auf Dänisch bei Museumsführun- gen vor. Labadi sagt: „Museen sollten anerkennen, dass Immigrant*innen, die die Sprache ihres Gastlandes ler- nen, sowohl zur Interpretation von Sammlungen beitragen als auch den Besuch anderer Zuwander*innen erleichtern können.“ Ihre Forschung zeige zudem, dass auf struktu- reller Ebene trotz aller Bemühungen noch immer grund- legender Handlungsbedarf bestehe. So seien People of Colour als Künstler*innen selten integraler Bestand- teil von Dauerausstellungen, sondern eher am Rande in Wechselausstellungen. „Europäische Museen sind kolo- niale Einrichtungen und ihre Arbeit ist von kolonialen Praktiken durchdrungen.“ Was laut Labadi ein Anfang sein könnte, dies zu ändern: „Migrant*innen und People of Colour einzustellen, die Entscheidungsgewalt besitzen und den Kern der Museumspraxis wirklich verändern wollen.“ DEKOLONIALISIERTES DENKEN Doch nicht nur in Museen wirken koloniale Strukturen fort. Labadi sagt: „Wir sehen diese Mechanismen über- all. Etwa in französischsprachigen Ländern Afrikas, wo Kinder aus Schulbüchern lernen, die in Frankreich pro- duziert werden und in denen sie nur wenig über ihre eigene Geschichte erfahren.“ Oder in der Schule ihrer Tochter: „Dort arbeiten die einzigen People of Colour als Reinigungskräfte oder in der Kantine, nicht aber als Lehrer*innen“, sagt Labadi. In ihrem neuesten Projekt befasst sie sich mit kolo- nialen Statuen im postkolonialen Afrika und der Frage, ob Geschichte zerstört wird, wenn diese aus dem öffent- lichen Raum entfernt werden. „Wenn wir anerkennen, dass Natur- und Kulturerbe dynamisch sind, können Statuen abgebaut werden, um den Weg für ein kulturelles Erbe zu ebnen, das besser mit der lokalen Geschichte überein- stimmt“, ist Labadis Position. Gerade interessiert sie sich auch für künstlerische Ansätze, die Statuen ersetzen und Menschen im öffentlichen Raum zumNachdenken bringen könnten. So wie die Installation PeopL der belgisch-ruan- dischen Künstlerin Laura Nsengiyumva: eine Eisreplik des Reiterstandbilds von König Leopold II., der für die Kolo- nialisierung des Kongo-Freistaats und die anschließende Ausbeutung der dortigen Ressourcen verantwortlich war. Die Künstlerin ließ die Statue des belgischen Kolonialherr- schers während des Kunst-Events „Nuit Blanche“ im Laufe eines langen Abends vor Publikum im überdachten Innen- hof einer Brüsseler Grundschule schmelzen. Labadi findet: „Das war eine sehr passende Art zu zeigen, wie komplex und langwierig es ist, koloniale Strukturen zu verändern und Wandel herbeizuführen.“ Fotos: privat MUSEUMS, IMMIGRANTS, AND SOCIAL JUSTICE (2018 ROUTLEDGE) Anhand von umfassenden Fallstudien führender Museen in Frankreich, Däne- mark und Großbritannien stellt Labadi auf interdiszipli- näre Weise folgende These auf: Museen können jenseits der Ausstellungsräume durch eigene Programme einen entscheidenden Bei- trag leisten, um unter ande- rem die Sprach- und Berufs- kompetenzen von Migrant*innen zu fördern. COLONIAL STATUES IN POST-COLONIAL AFRICA Wie koloniale Statuen in afrikanischen Ländern nach der Unabhängigkeit genutzt und interpretiert wurden, untersucht Labadi aktuell. Sie beleuchtet die komplexen Dynamiken von Macht, Erinnerung und Identität und will eine breite Diskus- sion über Denkmäler in postkolonialen Gesell- schaften anregen. RETHINKING HERITAGE FOR SUSTAINABLE DEVELOPMENT (2022 UCL PRESS) Wie und ob Kulturerbe zur nachhaltigen Entwicklung beitragen kann, erforscht Labadi in diesem Projekt. Auf Basis einer historischen Analyse internationaler Ansätze zum Thema „Kultur“ und einer kritischen Untersuchung von Kultur- erbe für Entwicklungs- projekte in Äthiopien, Mosambik, Namibia und Senegal erarbeitet sie Emp- fehlungen für eine neue Ausrichtung der Kulturerbe-Praxis. „ NOCH IMMER WIRD KULTURERBE ALS UNVERÄNDERBARER TEIL DER VERGANGENHEIT BETRACHTET.“ SOPHIA LABADI AUS DER FELDFORSCHUNG

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