Nr. 116/2024
28 29 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 FORSCHUNG HAUTNAH W enn Sophia Labadi am Schreibtisch sitzt, ist aus ihremArbeitszimmer meist Jazz zu hören. „Ich mag es, wie kreativ und divers diese Musik ist. Es hat mich schon immer fasziniert, dass ein und dasselbe Stück je nach Improvisation ganz unterschiedlich klingt.“ Mitte der 1990er-Jahre, als sie ihren Bachelor-Abschluss in Poli- tik- und Sozialwissenschaften machte, arbeitete sie als Frei- willige beim renommierten Grenoble Jazz-Festival. „Dort habe ich eine Ausstellung mit dem Titel ‚Jazz‘ mitorgani- siert, in der Scherenschnitte von Henri Matisse zu sehen waren. Eine Erfahrung, die mich so sehr begeistert hat, dass ich für mein Masterstudium ein Fach suchte, das inhaltlich eng mit Kunst, Museen und Kultur verknüpft ist, und ich mich um einen Platz im Master-Studiengang Kulturerbe am University College in London beworben habe“, erinnert sich Sophia Labadi. Über zwei Jahrzehnte später ist sie Professorin für Kulturerbe an der britischen Universität Kent und gilt als herausragende interdiszip- linäre Forscherin auf ihrem Gebiet. Kürzlich wurde ihr der Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschafts- und Kulturvermittlung verliehen, den die Humboldt-Stif- tung gemeinsam mit der Fritz Thyssen Stiftung vergibt. Eine Kernfrage prägt ihre wissenschaftliche Arbeit: Wie kann kulturelles Erbe zur nachhaltigen Entwicklung etwa in den Bereichen Armutsbekämpfung oder Klimawandel beitragen? DYNAMISCHES ERBE Wer verstehen will, unter welchen Voraussetzungen Natur- und Kulturerbe einen Beitrag zur nachhaltigen Entwick- lung leisten können, sollte laut Labadi einen kritischen Für Sophia Labadi ist Vergangenheit lebendig. Die Ethnologin und Expertin für Kulturerbestudien erforscht, wie Welterbestätten und europäische Museen soziale Gerechtigkeit in afrikanischen Ländern fördern, Armut bekämpfen und dem Klimawandel aktiv begegnen können – und deckt dabei auf, wie koloniales Denken nachhaltige Entwicklung mitunter verhindert. Text ESTHER SAMBALE DIE ERBFORSCHERIN Blick auf die gängige Definition des Begriffs werfen. „Noch immer wird Natur- und Kulturerbe als unveränderbarer Teil der Vergangenheit betrachtet. Eine Haltung, die dazu führen kann, dass potenziell innovative Lösungen, die uns die Vergangenheit liefern könnte, dann übersehen oder ignoriert werden.“ So wie in der senegalesischen UNESCO- Welterbestätte Sine Saloum, die Labadi für Feldstudien im Rahmen ihres 2022 erschienenen Buchs „Rethinking Heritage for Sustainable Development“ besuchte. Die weit- verzweigte Sumpflandschaft an der Mündung der Flüsse Saloum und Sine in den Atlantik ist durchzogen von klei- nen Inseln undMangrovenwäldern. Dort dientenMuschel- hügel aus der Zeit um 5.000 v. Chr. den Bewohner*innen als effiziente Barrieren gegen den – zunächst nur durch die Gezeiten, später zudem durch den Klimawandel – stei- genden Meeresspiegel, bis diese vor Kurzem als Baumate- rial abgetragen wurden. „Traditionelle Lösungen werden oft als irrelevant abgetan und die lokale Bevölkerung als in der Vergangenheit lebend angesehen. Dabei setzt man aktuell interessanterweise unter anderem in den USA und den Niederlanden wieder Austernriffe als Küstenschutz ein“, sagt Labadi. Sie plädiert für einen ganzheitlichen und dynamischen Natur- und Kulturerbe-Begriff. Die Eintei- lung in „materielles“ und „immaterielles“ Erbe sei eurozen- trisch und kann ihr zufolge Entwicklung verhindern: „Wir müssen anerkennen, dass Kultur und Natur miteinander verwoben sind. Eine Stadt wie Paris kann man nicht ohne die Seine verstehen. Gleiches gilt für vieleWelterbestätten.“ Ein Beispiel für eineWelterbestätte, die über die Katego- rien von Natur- und Kulturerbe hinausgeht und eine kom- plexere Geschichte vermittelt, ist für Labadi Robben Island in Südafrika. Das dortige ehemalige Gefängnis, in dem Foto: Humboldt-Stiftung/Marina Weigl › PROFESSORIN DR. SOPHIA LABADI ist Ethnologin und Professor of Heritage an der University of Kent, Vereinigtes Königreich. Die Expertin für Kulturerbe- und Menschenrechts- forschung erhielt 2023 den Reimar Lüst-Preis für internationale Wissen- schafts- und Kulturvermittlung.
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