Nr. 116/2024

manchen Regionen der Welt selbstverständ- lich sind, entscheiden darüber, wer mit wem kooperiert und ob sich kooperierende For- schende an unterschiedlichen Standorten in einemVideoanruf ohne technische Unterbre- chung über eine relevante Frage austauschen können“, sagt Jasanoff, die 2017 mit dem Rei- mar Lüst-Preis der Humboldt-Stiftung ausge- zeichnet wurde. Sie fordert daher weitreichende Verän- derungen. „Wir sprechen häufig davon, dass Innovationen durchWissenschaft entstehen“, sagt sie. „Ich denke, tatsächlich brauchen wir eine neue Ära der Innovation in unserem Denken über die Wissenschaft.“ Dazu gehöre anzuerkennen, dass die Metriken und Kon- zepte, anhand derer Fortschritt und Exzellenz gemessen werden, nicht frei von kolonialem Erbe seien. „Was wir brauchen, ist kein afri- kanisches CERN“, sagt Jasanoff, ebenso wenig wie den Hierarchiegedanken, der hinter einer solchen Forderung stehe. „Wir müssen begrei- fen, dass es neben den im globalen Norden besonders anerkannten Naturwissenschaften andere Konzepte vonWissen undWissenspro- Technology Studies gegründet hat. „Relevant sind hier nicht nur die Pro-Kopf-Investitio- nen von Staaten in die Wissenschaft, son- dern auch sekundäre Faktoren, wie etwa die Rechenleistung von IT-Systemen, die For- schenden zur Verfügung steht.“ Dies wiede- rum hänge auch damit zusammen, ob es in dem jeweiligen Land ein stabil funktionieren- des Stromnetz gibt. „Solche Faktoren, die in DURCH GUTE ABSICHTEN ALLEIN WERDEN DIE ETABLIERTEN MACHTSTRUKTUREN NICHT IN SICH ZUSAMMENBRECHEN.“ SABELO J. NDLOVU-GATSHENI „ Wettrennen der KI-Pioniere Wo 2023 KI-Modelle entwickelt wurden 51 Industrie Zusammenarbeit zwischen Industrie und akademischer Wissenschaft WELCHE BEREICHE ENTWICKELTEN 2023 DIE WICHTIGSTEN KI-MODELLE? IN WELCHEN REGIONEN WURDEN 2023 DIE WICHTIGSTEN KI-MODELLE ENTWICKELT? 61 15 8 5 4 4 4 Ver. Arabische Emirate Ägypten Singapur Vereinigtes Königreich Israel Kanada Deutschland Frankreich China USA Quelle: The AI Index Report 2024. Measuring trends in AI. Stanford University, https://aiindex.stanford.edu/ report 3 3 2 21 rassifiziert und alle, die nicht weiß waren, wur- den gemäß den Abstufungen ihrer Hautfarbe ihrer Menschlichkeit beraubt“, sagt er. „Wer als Unterkategorie des Menschen gilt, dem gesteht man weder Geschichte noch Wissen noch Kultur noch Sprache zu.“ Bezogen auf die Problematik des Klimawandels etwa bedeute das: „Wer nicht an den technologischen Fort- schritt glaubt, sondern sich als Teil einer beleb- ten Natur begreift, in der auch Bäume, Flüsse und Berge Lebewesen sind, gilt als barba- risch und zu zivilisieren“, sagt Ndlovu-Gat- sheni. Angesichts der Komplexität der Heraus- forderungen der Menschheit fordert er, es zu „wagen, all das bisher Geglaubte fundamen- tal infrage zu stellen und in einen Prozess des Verlernens von Gewissheiten einzutreten.“ EXZELLENTER SÜDEN Dazu sei auch die Abkehr von den Wissens- hubs einkommensstarker Nationen notwen- dig, sagt Sheila Jasanoff. „Junge internatio- nal mobile Wissenschaftler*innen aus dem globalen Süden haben fast alle in Nordame- rika und in Europa studiert“, sagt sie. Dass junge Forschende aus dem globalen Norden ihren Abschluss im globalen Süden machen, sei dagegen sehr selten. Dabei sei es theore- tisch möglich, auch in Ländern des globalen Südens exzellente Bildung anzubieten – für einen Bruchteil der Kosten der Ivy League. Jasanoff verweist auf die Frugal Science , ein Konzept aus Indien, das für sparsame Wis- senschaft steht. Kapital und Materialeinsatz sollen dabei so gering wie möglich sein. „Was die Sparsamkeit der Wissenschaft ausmacht, sodass sie trotzdemWissenschaft bleibt, ist für sich genommen eine wissenschaftliche Frage, die es zu erforschen gilt“, sagt sie. Ähnliche Entwicklungen beobachtet Daya Reddy in Afrika. Der emeritierte Professor für angewandte Mathematik an der Universität Kapstadt und ehemalige Präsident des Inter- national Science Councils ist Vorsitzender des International Advisory Boards der Hum- boldt-Stiftung. „Es entstehen längst regionale Hubs“, sagt Reddy und nennt die Alliance of Research Universities in Africa (ARUA) als Beispiel: ein afrikanisches Netzwerk beson- ders forschungsintensiver Universitäten, das derzeit 23 Hochschulen umfasst. „Auch an meiner Universität kommen bereits 15 Prozent RESIDENCY-PROGRAMM „Macht und Wissen – Glo- balen Ungleichgewichten in unseren Wissenssystemen entgegentreten“: Auch das Humboldt Residency-Pro- gramm 2024 mit elf inter- nationalen Teilnehmenden aus Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft setzt sich mit Herausforderun- gen und neuen Wegen des globalen Wissenstransfers auseinander. www.humboldt- foundation.de/ residency-programm der Studierenden aus anderen afrikanischen Ländern, weil die Qualität unseres Bildungs- angebots so hoch ist“, sagt er. Um solche regi- onalenWissenschaftshubs weiter zu etablieren und zu stärken, seien Forschungskooperatio- nen mit Wissenschaftler*innen des globalen Nordens essenziell. „Nur so werden Univer- sitäten im globalen Süden zu attraktiven Stu- dienzielen.“ Reddy sieht vor allem internationale aka- demische Institutionen in der Pflicht, eine gerechte globale Forschungslandschaft zu fördern. „Die Vergabekriterien für Wissen- schaftsförderung müssen so gestaltet sein, dass daraus gerechte Nord-Süd-Wissenschaftspart- nerschaften entstehen, und keine ‚Helikopter- Wissenschaft‘, bei denen Daten im globalen Süden gesammelt werden, die Forschenden, die das erledigen, aber keine gleichberech- tigten Partner*innen sind“, sagt er. Sabelo J. Ndlovu-Gatsheni will das Thema Augen- höhe zunächst theoretisch angehen, bevor es an die Entwicklung von Lösungen geht. „Wir müssen erst einmal anerkennen, mit welchen Problemen wir es überhaupt zu tun haben“, sagt er. „Durch gute Absichten allein werden die etablierten Machtstrukturen nicht in sich zusammenbrechen.“ Die zentrale Frage sei: „Wie stellen wir sicher, dass alles Wissen, das die Diversität und Pluralität der Menschheit widerspiegelt, gehört wird?“ Dabei gebe es der- zeit viele Ansätze und Überlegungen, die man zusammenführen müsse. „Niemand von uns hat einen fertigen Entwurf zu der Frage, wie ein gerechtes Wissenschaftssystem gestaltet sein soll“, sagt er. „Aber im Prozess des Verlernens alter Gewissheiten, in den wir alle eintreten müssen, wird ein Weg dorthin entstehen.“ KI gilt heute als einer der Indikatoren für Innovati- onskraft. Der AI Index Report der Stanford Univer- sity liefert einen Stand über die Entwicklung Künstlicher Intelligenzen (KI) weltweit. Der Bericht aus 2024 geht auf den technischen Fort- schritt, die öffentliche Wahr- nehmung von KI und geo- politische Entwicklungen ein, beispielsweise in wel- chen Ländern und Branchen die meisten KI-Modelle ent- wickelt wurden. Hier zeigt sich global eine breitere Länderverteilung – und die Industrie liegt klar vor der akademischen Forschung. Dies mag unter anderem auch an den Kosten liegen, die insbesondere in das Trai- ning dieser Modelle fließen, wie die Studie nahelegt. duktion gibt, die gleichwertig relevant und för- derungswürdig sind.“ Eine Institution, die das bereits anerkannt habe, sei das Intergovernmental Panel on Cli- mate Change (ICCP). Hier ist indigenes Wis- sen zur Bekämpfung des Klimawandels mitt- lerweile willkommen. Von indigenemWissen zu sprechen, zeuge jedoch ebenfalls von west- lich geprägtem Schubladen- und Hierarchie- denken, kritisiert Jasanoff. „Die Menschen im Westen begreifen sich selbst nicht als ‚indigen‘, weil sie dieses Wissen mit ‚primitiv‘ assozi- ieren“, erklärt sie. „Wir müssen akzeptieren, dass Wissen umfassender ist als das, was For- schende im Labor oder mithilfe mathemati- scher Modelle generieren – und dass es nicht zwingend aus Universitäten kommt.“ DER MENSCHLICHKEIT BERAUBT Auch Sabelo J. Ndlovu-Gatsheni, Professor und Chair of Epistemologies of the Global South mit Fokus Afrika an der Universität Bayreuth und wissenschaftlicher Gastgeber der Humboldt-Stiftung argumentiert so: „Mit Beginn der Moderne wurden die Menschen Staatliche Forschung Akademische Wissenschaft 15 2 24 25 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024

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