Nr. 116/2024

dung zur spanischen Krone betont, da Humboldt seine Expertise im Bereich des Bergbaus der Kolonialmacht zur Verfügung stellte. Daher wird gelegentlich hinterfragt, ob Humboldt sich ausreichend bewusst war über die Verwen- dung der von ihm in Umlauf gebrachten Informationen. Teilweise wird auch die Ansicht geäußert, dass bei der Bewertung seiner Verdienste die lokalen wissenschaftli- chen Kreise und auch andere Informanten vor Ort, wie beispielsweise seine indigenen Reiseführer, nicht genü- gend Beachtung gefunden hätten. Dabei entsprach es kei- neswegs Humboldts aufklärerischen Idealen, im Kontext einer Kolonialregierung zu arbeiten – ein System, das er grundlegend ablehnte, wie aus seinen persönlichen Auf- zeichnungen hervorgeht: Jede Kolonialregierung sei „eine Regierung des Misstrauens“, die sich nicht am Wohl der Kolonien orientiere, sondern sich nach den Interessen des Imperiums richte. REGIONALE REZEPTION Seine kritischen Kommentare zum Kolonialsystem und die Auswirkungen auf die Gesellschaft sollten jedoch kei- neswegs als Legitimation der Unabhängigkeitsbewegung verstanden werden. Humboldt hat stets schrittweise Refor- men zur Veränderung eines Systems einem gewaltsamen Umsturz durch eine Revolution vorgezogen. Zudem war er generell nicht optimistisch hinsichtlich des Ergebnisses von Revolten, vor allemwenn diese durch die gesellschaft- Humboldt ist der erste Deutsch-Mexikaner der Geschichte. Er ist der sinnbildlichste und außergewöhnlichste Botschafter, den wir zwischen den beiden Nationen haben können. Humboldt es el primer alemán-mexicano de la historia. Es el embajador más emblemático y extraordinario que podemos tener entre las dos naciones. dersetzung mit ihrer Geschichte, Gesellschaft und Kultur angeregt. Jedoch wird auch darauf verwiesen, dass Hum- boldts Informationen über die Bodenschätze Neuspani- ens zur postkolonialen Ausbeutung der lokalen Ressour- cen beigetragen haben. Kritische Stimmen attestieren ihm gar eine Rolle als Propagandist europäischer Investitionen. Zudem wird in Mexiko auch heute noch die Weitergabe geografischen und statistischenWissens an die Regierung der USA bei seinem Besuch in Washington und Philadel- phia im Frühjahr 1804 kritisiert. Auch auf Kuba wird Humboldts landeskundlicher Studie „Politischer Essay über die Insel Kuba“ eine große Bedeutung zugeschrieben. Aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit der geografischen, statistischen und wirtschaftlichen Situation des Landes wird er auch heute noch oft als „zweiter Entdecker” Kubas bezeichnet. Beson- ders seine profunde Abneigung gegen die Sklaverei, der Humboldt in diesemWerk ein ganzes Kapitel widmet, wird hier sehr positiv wahrgenommen. Ebenso wie seine Ana- lyse der weitgehend auf der Zuckerproduktion beruhen- den Wirtschaft der Insel und sein Einsatz für eine nach- haltige Landwirtschaft. Dabei gibt es aber auch Kritik. Diese richtet sich auf den kolonialen Kontext, in dem Humboldt seine Expedi- tionsreise durchführte. Hier wird vor allem seine Verbin- Straßenschild in Ingapirca, Ecuador Mexikanische Briefmarke mit Alexander von Humboldt DIE STUDIE „Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika“ ist im Forschungspro- gramm „Kultur und Außenpolitik“ des In- stituts für Auslandsbeziehungen (ifa) ent- standen. Die hervorgehobenen Zitate in diesem Artikel sind Aussagen aus den zugrundeliegenden Interviews, die etwa in Mexiko, Venezuela, Kuba, Peru, Kolum- bien, Ecuador und Chile geführt wurden. Mehr zur Studie: https://www.ssoar.info/ ssoar/handle/document/62425 DR. SANDRA REBOK ist Wissen- schaftshistorikerin und forscht zurzeit an der University of Califor- nia in San Diego, USA. Sie ist seit über 20 Jahren in der Alexander von Humboldt-Forschung tätig und Autorin zahlreicher Veröffentlichun- gen zu Humboldt, darunter die hier zitierte Studie „Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika“, die 2019 in der ifa-Edition „Kultur und Außenpolitik“ erschienen ist. Denkmal für Humboldt und den Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar im venezolanischen Mérida liche Oberschicht initiiert wurden. Seiner Meinung nach würde sich die Situation der am meisten benachteiligten Gesellschaftsgruppen, also der indigenen Gruppen, der Sklav*innen und der Arbeiter*innen in den Minen oder in der Landwirtschaft kaum zum Positiven verändern, wenn die kreolischen Eliten die Macht übernähmen. Und er behielt recht. Was ist nun das Fazit zur heutigen Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika? Es wird deutlich, dass die regionalen Unterschiede beim Blick auf Humboldt zum großen Teil durch die Umstände seiner historischen Reise in den jeweiligen Gegenden bedingt sind. Ein anderer wichtiger Faktor ist die bewusste Einbindung seiner Person in bestimmte nationale Interessen, in einen Prozess, der bereits während seines Aufenthalts dort begonnen hat und bis zum heutigen Tage andauert. Diese sozio-politischen Rahmenbedingungen zu verstehen, in denen Humboldt seiner wissenschaftlichen Forschung nachgegangen ist, ist eine wichtige Herausforderung. Nur so können wir seine Arbeit und ihre Bedeutung richtig einordnen. Weder eine Idealisierung und Verehrung seiner Person als Held der lateinamerikanischen Unabhängigkeit ist hierbei zielfüh- rend noch eine Wahrnehmung Humboldts als Werkzeug des Imperialismus. Beide Perspektiven für sich genommen verengen unser Verständnis von Humboldt und seinem versierten diplomatischen und idealistischen Navigieren zwischen den Herausforderungen seiner Zeit. Fotos: Imago/ Ipon, Peregrine/Alamy, Marion Kaplan/Alamy, privat SCHWERPUNKT 21 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 20

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