Nr. 116/2024
U nbestritten, Alexander von Humboldts Name ist in Lateinamerika sehr präsent. Der preußi- sche Gelehrte hat auch heute noch eine große Bedeutung für die transatlantischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen. Dies bezieht sich vor allem auf die Gegenden, durch die ihn seine Expeditions- reise zwischen 1799 und 1804 führte, die heutigen Länder Venezuela, Kuba, Ecuador, Kolumbien, Peru und Mexiko. Aber auch in anderen Regionen Amerikas abseits seiner Reiseroute ist er kein Unbekannter. Beeindruckend ist das Ausmaß an Wissen über die Neue Welt, das Humboldt uns in seinen zahlreichen Publikationen, seiner umfang- reichen Korrespondenz, den naturhistorischen Sammlun- gen und präzisen kartografischen Arbeiten hinterlassen hat. Darin machte er auch auf soziale Missstände der Zeit aufmerksam und stellte Überlegungen an, wie diese zu bekämpfen seien. Doch wie wird Humboldt heute, über 200 Jahre nach seiner Reise, in den Ländern Lateinamerikas wahrge- nommen? Mit welchen Themen wird er in Verbindung gebracht? Was schätzt man an ihm – und wo ist der Blick auf ihn eher kritisch? Diesen Fragen ging eine vom Aus- War Alexander von Humboldt ein Werkzeug des Kolonialismus oder einer der geistigen Väter der Unabhängigkeitsbewegung Spanisch-Amerikas? Weder noch, meint Sandra Rebok, Wissenschaftshistorikerin und Humboldt-Expertin. Text SANDRA REBOK wärtigen Amt und dem Institut für Auslandsbeziehungen initiierte Studie 2019 anlässlich des 250. Geburtstags des Forschungsreisenden nach. Hierbei kam zum Vorschein, dass es in der Tat bedeutende regionale Unterschiede gibt sowie auch zwischen den intellektuellen Kreisen und der allgemeinen Bevölkerung jeden Landes. Zusammenfas- send lässt sich jedoch sagen, dass Humboldts wissenschaft- liche Leistungen länder- und klassenübergreifend positiv wahrgenommen werden. Dabei, so die Studienteilnehmen- den, habe Humboldt in Amerika nicht nur eine beeindru- ckende Menge an wissenschaftlichen Daten erhoben, son- dern auch ein humanes Bild des Kontinents vermittelt. Die sogenannte Neue Welt war für ihn nicht nur ein Gebiet zur wissenschaftlichen Feldforschung, sondern eine Region, für die er sich auf vielfältige Weise einsetzte. Humboldt widerlegte auf wissenschaftliche Weise die von europäi- schen Philosophen seiner Zeit vertretene Auffassung einer Heute noch allgegenwärtig: Im Alexander-von-Humboldt-Nationalpark im Osten von Kuba steht eine Statue des Namensgebers am Besucher- zentrum der UNESCO-Welterbestätte. minderwertigen und degenerierten Gegend. Durch ihn gelangte ein beträchtlicher Teil des Wissens über Ame- rika nach Europa, und er machte sich dafür stark, dass die Arbeiten amerikanischer Gelehrter und Forschungsrei- sender in die internationale Wissenschaftsgemeinde auf- genommen wurden. TEIL DER GESCHICHTE AMERIKAS In politischer Hinsicht wird Humboldts Beitrag zur Entste- hung der neuen NationenMittel- und Südamerikas betont, indem er einen Weg für die wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Modernisierung des Kontinents auf- zeigte. Besonders hervorzuheben ist hier sein gesellschaft- liches Engagement: Er kritisierte offen die Sklaverei und die Behandlung der indigenen Bevölkerung sowohl in den Missionsstationen als auch den Minen. Er prangerte die Korruption der Kolonialverwaltung an sowie die Ausbeu- tung der Bevölkerung durch die Eliten. Noch heute ist man überzeugt, dass sich Humboldt für die Belange der einfa- chenMenschen in Amerika eingesetzt hat, er also auch ein Teil der Geschichte Amerikas sei. Zugleich haben die Länder Amerikas ihren eigenen kritischen Blick auf das Erbe Humboldts, der sich aus ihrer spezifischen Vergangenheit ergibt. Diese Einbin- dung Humboldts in die jeweilige (Kolonial-)Geschichte lässt sich deutlicher veranschaulichen, wenn wir uns die beiden Länder ansehen, über die Humboldt jeweils eine Regionalstudie erstellt hat – Mexiko und Kuba. InMexiko wird seinemWerk „Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neuspanien“ eine zentrale Rolle hinsicht- lich der Vorbereitung des Landes auf seine Unabhängigkeit zugeschrieben. Durch dieses Werk habe Humboldt – in der Studie als der „erste Deutsch-Mexikaner der Geschichte“ bezeichnet – auch die Bevölkerung zu einer Auseinan- › Humboldt era una voz a favor de la igualdad y la libertad. Humboldt war eine Stimme für Gleichheit und Freiheit. HUMBOLDT GEHÖRT IHNEN, ABER ER GEHÖRT AUCH UNS Foto: Rudolf Ernst /Alamy SCHWERPUNKT 18 19 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024
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