Nr. 116/2024
Fotos: Jean-Christophe Verhaegen/AFP via Getty Images, privat WARUM WIR DEN POSTKOLONIALISMUS BRAUCHEN von DAVID SIMO W ie bei jedemneu entstehenden Paradigma rufen die Worte „Postkolonialismus“, „postkoloniale Kritik“, oder „postkolo- nialer Ansatz“ heftige Reaktionen her- vor: begeisterte, produktive Übernahme, hochmütiges Ignorieren, aber auch Irritationen, die sich zu wütender Verwerfung steigern können. Gerade diese Reaktionen sind jedoch der Beweis dafür, dass hier neue erkenntnis- theoretische Perspektiven eröffnet werden, die mit mächti- genWissensordnungen und Selbstverständlichkeiten kolli- dieren. Nicht wenige in Europa erleben den postkolonialen Ansatz als provokativen Versuch, Erkenntnisse undTheo- rien durchzusetzen, die außerhalb europäischer Denktra- dition entstanden sind. Gewiss, manche dieser Traditio- nen – wie Nietzsches Idee einer kritischen Beschäftigung mit der Geschichte oder Foucaults Genealogie des Wis- sens – wurden zunächst von Intellektuellen vom „Rand“ der globalisierten Welt übernommen und weitergedacht. Sie haben mithilfe dieser Ideen ihr Unbehagen über die Rolle zumAusdruck gebracht, die ihnen in der globalisierten Welt zugeschrie- ben wird. Zugleich wurden eigene The- orien – lokale Narrative – entwickelt. Philosoph*innen und Literat*innen beschreiben die Welt als das Produkt von Machtdispositiven, Machtverhält- nissen und geschichtlichen Handlungen. Wir wissen nun mehr über dieWahr- nehmung und Bewertung vonMenschen und Kulturen, die Rolle von Macht bei der Gestaltung von sozialen Beziehungen und die Zirkulation vonWaren undMen- schen. Zugleich haben wir viel gelernt über die Vorstellungen, Gefühle und Fantasien, die diesen Prozessen inne- wohnen. Die gewonnenen Erkenntnisse haben auch Auswirkungen auf zivilge- sellschaftliche und gedächtnispolitische Forderungen und Handlungen oder werden von ihnen begleitet. In Deutschland wie in vielen anderen Ländern entsteht so gerade eine Wissensgemeinschaft, die in geo- politischen Fragen und in der Produktion von Zusammen- lebenswissen in der heutigen Welt auf der lokalen und auf der planetarischen Ebene noch viel zu leisten vermag. GASTBEITRAG Der Germanist PROFES- SOR DR. DAVID SIMO ist emeritierter Professor für German Studies an der Université de Yaoundé 1, Kamerun. 2008 erhielt er den Reimar Lüst-Preis der Humboldt-Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung. Von Mexiko nach Frankreich: Dieses Exemplar der seltenen Kakteenart Lophophora wurde an einem Pariser Flughafen beschlagnahmt und ist jetzt Teil der Sammlung des Botanischen Gartens in Villers-lès-Nancy. DIE WESTLICHE WISSENSCHAFT STÜTZT SICH SEIT LANGEM AUF DAS WISSEN UND DIE AUSBEUTUNG KOLONISIERTER VÖLKER.“ MARLEEN HABOUD „ „Einheimische zeigten den Eroberern zum Beispiel natürliche Heilpflanzen. Daraus wur- den dann wissenschaftliche Erkenntnisse, die zur Entwicklung vonMedikamenten verwen- det wurden“, führt Marleen Haboud aus. Sie ist Anthropologin und Gründerin des inter- disziplinären Forschungsprogramms Orali- dad Modernidad an der Pontificia Universi- dad Católica del Ecuador. Als Soziolinguistin forscht sie zu indigenen Sprachen. „Die west- liche Wissenschaft stützt sich insofern seit Langem auf das Wissen und auch auf die Aus- beutung kolonisierter Völker.“ VERLUST AN KULTUR Die Folgen für die kolonisierten Menschen waren und sind gravierend. Bis heute schäm- ten sich viele Indigene ihrer Wurzeln, berich- tet die Georg Forster-Forschungspreisträge- rin Haboud. „Im kolonialen Kontext wurden indigene Völker als nichtmenschliche Wesen betrachtet, die keine Seele haben. Ihre Spra- chen galten als nutzlos. Bis heute vernachläs- sigen viele Indigene das Erlernen ihrer ange- stammten Sprache und bemühen sich, den Spanier*innen und Stadtbewohner*innen zu gleichen.“ Kolonialismusfolgen dieser Art seien überall auf der Welt zu beobach- ten, gefährdeten nicht nur den Lebenserfolg indigener Menschen, sondern auch die kultu- relle Vielfalt. „Von den rund 7.000 indigenen Sprachen weltweit sind fünfzig Prozent stark gefährdet, innerhalb der kommenden Dekade auszusterben. Damit gehen natürlich nicht nur die Sprachen, sondern auch einzigartiges Wis- sen, einzigartige Praktiken und Traditionen verloren“, erklärt Haboud. „Es gibt viele Verluste an eigener Kultur und eine mangelnde Wertschätzung der eige- nen Kultur“, sagt auch die Historikerin Ulrike Lindner. Unter anderem gingen dadurchMög- lichkeiten verloren, die eigene Geschichte zu verstehen. So befinden sich viele kulturell und historisch bedeutsame Artefakte in Europa – bis heute. „Europäer*innen müssen nicht nach Afrika reisen, um Bilder von Rembrandt zu betrachten. Viele Afrikaner*innen aber › „Zum Teil hatten sie mehr als 50 oder sogar 100 Begleiter dabei: lokale Träger, Wegfüh- rer, Übersetzer, Köche, Jäger. Diese verfügten über unverzichtbares Wissen – zum Beispiel zu Bergpässen, Quellen und Heilpflanzen.“ Auch die Sprachen der bereisten Regionen beherrschten die europäischen Expeditions- leiter in der Regel nicht und waren somit in mehrfacher Hinsicht von ihren einheimischen Begleitungen abhängig. In Reiseberichten jedoch wurde das in der Regel nicht erwähnt oder imLaufe der Editionsgeschichte aus ihnen getilgt – aus vielfältigen Gründen. Rassistische Ressentiments und die kulturellen Grenzen des Sagbaren jener Zeit zählen ebenso dazu wie Versuche, die Absatzzahlen der Bücher mittels klischierter Darstellungen zu steigern. Auch mussten die Europäer bei ihren Expeditionen zumeist keine „wilde Natur“ erschließen, wie es die Darstellungen mit- unter nahelegen: Afrikareisende zum Bei- spiel griffen auf vorhandene Infrastrukturen mit Trägersystemen und Karawanenrouten zurück. In Indien wiederum konnten euro- päische Reisende auf bestimmten Routen bequem in Hotels einkehren. „Das wider- spricht natürlich dem Bild, das wir von Über- see-Expeditionen haben,“ sagt von Brescius. „Wenn von Entdeckungen die Rede ist, muss man sich schlicht immer fragen: eine Entde- ckung für wen?“ Was für europäische Rei- sende neu war, war den Menschen in der Region meist nur allzu vertraut. Und oftmals teilten sie ihr Wissen bereitwillig. SCHWERPUNKT 14 15 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024
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