Nr. 116/2024

Foto: Maureen Vollmer Der Kolonialismus war umfassend, und er war gewaltvoll. Er ordnete die Welt neu, führte zu einer Zirkulation von Wissen ebenso wie zu Krieg, Vertreibung, Versklavung, Unterdrückung und Ausbeutung. Die Kolonialzeit schrieb sich tief in Identitäten ein – und hat bis heute massive Auswirkungen, auch auf Wissenschaft und Forschung. Text NORA LESSING V iele wissenschaftliche Diszipli- nen haben sich zur Hochzeit des Kolonialismus im 19. Jahrhun- dert überhaupt erst entwickelt und verfestigt“, sagt Ulrike Lindner, Histori- kerin und Expertin für Imperial- und Koloni- algeschichte. So seien Kolonial-, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte heute untrennbar miteinander verwoben. Die Geografie etwa habe mittels Vermessungsprojekten und Kar- tografie die Basis für spätere Eroberungsfeld- züge geliefert. Die Biologie profitierte vom Studium der Pflanzen und Tiere, die in den Kolonien gesammelt wurden. Und Disziplinen wie die Ethnologie und Anthropologie wären ohne den Kolonialismus wohl gar nicht erst entstanden. Auf ihren Streifzügen durch die Kolonien sammelten europäische Abenteurer, Händler undWissenschaftler Unzähliges ein, brachten es zurück nach Europa – von Gesteinsproben über kulturelle Artefakte und Alltagsgegen- stände bis hin zu Menschen, die in europä- ischen Völkerschauen ausgestellt wurden. Nicht selten war es Ziel dieses Sammelns und Forschens, die vermeintliche Überlegenheit westlicher Gesellschaften zu untermauern. „Die Ethnologie etwa hat mit der Vorannahme Objekte gesammelt, dass andere Kulturen minderwertig seien“, erklärt Ulrike Lindner, die 2005 mit einem Feodor Lynen-Stipen- dium der Humboldt-Stiftung an der Univer- sity of Cambridge im Vereinigten Königreich forschte. „Und viele Anthropologen wollten anhand von Schädelvermessungen beweisen, dass Menschen aus nicht-europäischen Gesell- schaften primitiver und eingeschränkter seien als Europäer*innen. In der damaligen Zeit galt das als Wissenschaft. Nach heutigemWissens- stand ist es Rassismus.“ Eurozentrische Annahmen – oft, aber nicht immer rassistischer Natur – prägten nicht nur die Sammelleidenschaft europäischer Entde- cker, sie fanden auch Eingang in Reiseberichte, Biografien und Geschichtsbücher. Hierbei dominierte ein bestimmter Typus von Erzäh- lung: „Die Darstellung der Erforschung der Welt war oftmals vomTopos des europäischen oder amerikanischenMannes geprägt, der die Forschung, die Entwicklung und überhaupt den Fortschritt voranbringt“, erklärt Moritz von Brescius, Historiker und Experte für europäische Forschungsreisen nach Übersee an der Universität Bern, der derzeit in Har- vard forscht. „Die Vorstellung, dass es diesen großen europäischen Entdecker an der Spitze einer Expeditionsgruppe gibt, der gegen eine feindliche Natur und angeblich feindliche Einwohner*innen das Licht der Aufklärung in unbekannte Weltteile trägt, entspricht aber nicht der Wahrheit.“ UNVERZICHTBARES WISSEN Intensiv geforscht hat von Brescius zu den Expeditionen der Brüder Schlagintweit aus München, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung Alexander von Humboldts nach Indien und Zentralasien aufbrachen. › Kontinuitäten: Behausung auf einer Plantage im spanischen Almería. Hier werden Gemüse und Obst für den weltweiten Export angebaut. Tausende afrikanische Arbeiter*innen sind im Einsatz, oft unter ausbeuterischen Bedingungen. EIN ERBE MIT LANGZEIT- FOLGEN SCHWERPUNKT 12 13 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024 HUMBOLDT KOSMOS 116/2024

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