Nr. 115/2023

29 HUMBOLDT KOSMOS 115/2023 das rasante chinesische Wirtschaftswachstum interessiert und wollte mithilfe von Datenanalysen herausfinden, wie es entsteht“, sagt Roberts. Doch dann kam alles anders. Molly Roberts‘ Betreuer in Harvard war Gary King, ein weltweit führender Spezialist für quantitative Metho- den. „Gary schrieb mir und Jennifer Pan, einer anderen Doktorandin in Harvard: Ich habe all diese chinesischen Blogs gefunden und es sind viel zu viele, um sie alle zu lesen“, erzählt Roberts imVideochat aus ihremApartment in Kalifornien, wo sie mit Mann und Kindern lebt. „Er wollte wissen: Hast du nicht Lust, herauszufinden, wie man mithilfe künstlicher Intelligenz einen Weg finden kann, um die Masse an Daten zu strukturieren?“ KRITIK VERSCHWINDET AUS DEM NETZ Die Blogeinträge, die King aus dem chinesischen Netz gefischt hatte, handelten von Arbeiterprotesten. Roberts sollte herausfinden, ob die Texte positiv oder negativ dar- über berichten. Dazu musste sie zunächst die künstliche Intelligenz trainieren. „Wir haben erst einmal häufig ver- wendeten Begriffen Ziffern zugeordnet“, erklärt Roberts. „Dann haben wir Texte gelesen, sie bewertet und mit Labels versehen: Hier schreibt jemand etwas Positives über den Protest, da wird der Protest negativ dargestellt.“ Anhand dieser Beispiele lerne der Computer, Worte und Wortzu- sammenhänge gemäß den Vorgaben zu interpretieren. „Das Faszinierende an KI ist, dass sie Muster auf einer tieferen Ebene erkennen kann, die uns Menschen oft ver- schlossen bleibt.“ Die Maschine sei dem menschlichen Gehirn in diesem Punkt voraus. Nach sechs Monaten fiel Roberts und ihren Mitar­ beiter*innen während ihrer Arbeit etwas auf. Weil bei einem der heruntergeladenen Blogposts die Wertung nicht klar erkennbar war, tippte sie die URL ein, um auf der Originalseite nach zusätzlichen Informationen zu suchen. Doch der Eintrag war nicht mehr auffindbar. „Verzeihung, dieser Eintrag ist nicht mehr verfügbar“, stand da. Die For- scherin begann, weitere URLs zu kontrollieren und stellte fest, dass vor allem solche Posts verschwunden waren, die sich positiv über Proteste geäußert hatten. Schnell war klar: Das chinesische Propagandaministerium musste diese Posts zensiert haben. Roberts realisierte, worauf sie gestoßen war: „Wir haben, ohne danach zu suchen, einen Mechanismus gefunden, mit dem sich Zensur im Internet messen lässt“, sagt sie und klingt nach wie vor begeistert, wenn sie davon erzählt. Roberts schrieb ein Programm, das Seiten regelmäßig anpingt, um nachzusehen, ob es sie noch imNetz gibt. Kein leichtes Unterfangen. Pingt der Computer zu häufig, wird KI ERKENNT MUSTER IN TEXTEN, DIE MENSCHEN OFT NICHT ENTDECKEN. Foto: picture alliance/AP Images › er als Absender irgendwann für die Seite gesperrt. „Ich musste erst mal einiges über das Programmieren lernen“, sagt Roberts und lacht. Auch das gelang ihr. Für Roberts hieß es aber auch, dass sie sich entscheiden musste, woran sie in Zukunft arbeiten will. Internationale Handelsbezie- hungen oder Zensur? LOKALE PROTESTE PROVOZIEREN AM MEISTEN „Ich bin morgens aufgewacht und Zensur war das Erste, woran ich gedacht habe“, sagt Roberts. Da habe sie gewusst: „Ich muss meine Pläne ändern.“ 2013 veröffentlichte sie gemeinsam mit Gary King und Jennifer Pan ein Paper in der American Political Science Review, in dem sie darle- gen, wie die chinesische Regierung zwar Kritik zulässt, aber dennoch die kollektiven Ausdrucksmöglichkeiten der Bevölkerung massiv einschränkt. Ihre Promotion darüber schloss sie im darauffolgenden Jahr ab. „Am stärksten zensiert wird in China bei Berichten über lokale Proteste“, fasst Roberts ihre zentralen Erkennt- nisse von damals zusammen. Wenn Bürger*innen auf die Straße gehen, um beispielsweise gegen Enteignung oder Polizeigewalt zu protestieren. Roberts konnte live verfol- gen, wie Posts darüber in Blogs und Foren verschwanden. „Wir denken oft, Zensur funktioniere über Bestrafung, zum Beispiel wenn Menschen inhaftiert werden wegen etwas, das sie geschrieben haben“, sagt sie. Das sei defi- nitiv auch der Fall, nicht nur in China, sondern auch in anderen autoritären Staaten wie Russland oder dem Iran. In allen diesen Ländern lässt sich aber auch beobachten, welch große Rolle der freie Zugang zu Informationen spielt. „

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