Nr. 115/2023

IMMUNTHERAPIE GEGEN VERSCHWÖRUNGSMYTHEN Extremismus boomt und bedroht in vielen Ländern die Demokratie. Die gute Nachricht: Die Widerstandskraft gegen Propaganda und Desinformation lässt sich trainieren. Die Zukunft der Demokratie ist, was Cynthia Miller-Idriss umtreibt. Die für sie größte Auf- gabe unserer Zeit: den sozialen Zusammenhalt erhalten. „Gesellschaftlich gesehen stehen wir heute vor größeren Herausforderungen für die Demokratie als etwa vor 20 Jahren“, sagt die US-amerikanische Extremismusforscherin. „Die Stabilität demokratischer Systeme und der soziale Zusammenhalt werden durch die Verbreitung von Desinformation und Propa- ganda untergraben“, sagt Miller-Idriss. Mit umfassenden Konsequenzen: „Die Anfälligkeit der Menschen für Verschwö- rungserzählungen beeinflusst Wahlergebnisse und erodiert das Vertrauen in staatliche Insti­ tutionen, ebenso wie das in Forschung und Wissenschaft.“ Das wiederum verstärke sys- temischen Rassismus und Frauenfeindlichkeit oder bewirke, dass manche Menschen nicht bereit seien, die Klimakrise als Realität anzu- erkennen oder sich in einer globalen Gesund- heitskrise wie zu Zeiten der Coronapandemie solidarisch zu verhalten. All das führe zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung. KEIN ZURÜCK FÜR VERSCHWÖRUNGSGLÄUBIGE In dem von ihr gegründeten Polarization and ExtremismResearch & Innovation Lab (PERIL) an der American University in Washington, D.C. beschäftigt sich Miller-Idriss deshalb mit der Frage, wie man Menschen resilienter gegen Verschwörungserzählungen machen kann. „Ich kenne keine Belege dafür, dass man jemanden, der bereits an Verschwörungsmy- then glaubt, wieder zurückkonvertieren kann“, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Aber wir können in unseren Experimenten klar zeigen, dass Aufklärung Menschen präventiv davon abhalten kann, an solche Erzählungen zu glau- ben und sich zu radikalisieren.“ Dazu sei es von zentraler Bedeutung, die Menschen mit den passenden Werkzeu- gen auszustatten, um Propaganda zu durch- schauen, sagt Miller-Idriss. Gemeinsam mit ihrem Team entwickelt und testet sie dafür beispielsweise 30-sekündige Videos, gedacht für den öffentlichen Raum, die die Mechanis- men von Propaganda und Desinformation erklären. Furchteinflößende Musik, Farben und Bilder, die Angst und Unwohlsein aus- lösen, aber auch auf Manipulation angelegte Rhetorik und spezifische Schlagworte könnten leichter identifiziert werden, sagt Miller-Idriss, wenn man wisse, worauf man achten müsse. „Videobasierte Impfung“ nennt sie dieses Kon- zept. Solche Videos können auf Social-Media- Plattformen verbreitet werden, aber auch auf öffentlichen oder halböffentlichen Bildschir- men und digitalenWerbetafeln, wie zum Bei- spiel im öffentlichen Nahverkehr. Für ihre Ideen und Expertise wird Miller- Idriss auch außerhalb desWissenschaftsbetriebs geschätzt. Sie spricht regelmäßig vor dem US- Kongress oder informiert Politik, Bildungsein- richtungen, Sicherheits- und Geheimdienste in den USA und anderen Ländern sowie die Ver- einten Nationen über neue extremistische Ent- wicklungen und zumöglichen Präventionsstra- tegien. ImSeptember 2022 erst war Miller-Idriss imWeißenHaus zu Gast und hielt eine Rede bei der von US-Präsident Joe Biden initiierten „Uni- tedWe Stand“-Konferenz zur Bekämpfung von durch Hass angestachelter Gewalt. Als wichtigen Impulsgeber für ihre Arbeit nennt Miller-Idriss das Humboldt Residency- PROFESSORIN DR. CYNTHIA MILLER-IDRISS ist Expertin für Extremis- mus und Radikalisierung. Sie lehrt und forscht an der School of Public Affairs der American University in Washington, D.C. Im Som- mer 2022 übernahm die ehemalige Bundeskanzler- Stipendiatin die Leitung des Humboldt Residency- Programms zum Thema „Sozialer Zusammenhalt“. SCHWERPUNKT 22 HUMBOLDT KOSMOS 115/2023

RkJQdWJsaXNoZXIy NTMzMTY=