Nr. 115/2023

senschaft eine große Herausforderung ist.“ Russland ist derzeit eines der prominentesten Beispiele für eine fortschreitende Autokrati- sierung; Indien, die Türkei und Ungarn gelten in der Politikwissenschaft mittlerweile nicht mehr als Demokratien, aber auch in Ländern wie Brasilien, Polen und Südafrika schränken gewählte Regierungen demokratische Normen und Institutionen ein. „Freie Wissenschaft ist auf Demokratie und Rechtstaatlichkeit ange- wiesen“, warnt Kinzelbach. CHINA: STRATEGIE DRINGEND GESUCHT Eine gänzlich neue Herausforderung für die Wissenschaftsgemeinschaft sieht Kinzelbach zudem darin, dass mittlerweile auch in auto- kratischen Systemen Spitzenforschung statt- findet. „Man kann sich nicht mehr bequem zurücklehnen und sagen: Dort, wo die Frei- heit am größten ist, ist auch die Exzellenz am größten“, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Wir haben es jetzt erstmals damit zu tun, dass repressive Wissenschaftssysteme, insbe- sondere in China, zu ernsthaften Konkurren- ten werden.“ „Auf der individuellen Ebene der For- schenden haben wir wirklich gute Antwor- lich immer für die Forschenden und Studie- renden vor Ort, betont Kinzelbach. Aber man- gelnde Wissenschaftsfreiheit schränke global betrachtet auch die Selbstregulierungskräfte der Forschung ein – dann etwa, wenn techni- scher Fortschritt und ethische Fragen aufei- nanderprallten wie beim Thema Gentechnik oder der Sammlung sensibler Daten. „Das aus- zutarieren ist in einem Kontext, in dem sich nicht alle Wissenschaftsdisziplinen frei am Wissensprozess beteiligen können, natürlich sehr viel schwieriger“, sagt Kinzelbach. „Für mich lautet die Antwort auch weiter- hin: Vernetzung und Austausch durch indi- viduelle Kontakte. Allerdings wäre ich bei institutionellen Kooperationen mit Autokra- tien deutlich vorsichtiger, denn hier ist das Instrumentalisierungsrisiko erheblich“, sagt Kinzelbach. „Außerdem würde ich mir wün- schen, dass wir noch viel stärker in Länder gehen, in denen die Exzellenz nach einschlägi- gen Rankings bisher nicht ausgeprägt ist“, sagt sie. „Das bedeutet, dass wir Forschung auch mit gesellschaftlicher Verantwortung und der Idee von Teilhabe verknüpfen – und die Exzel- lenz derer anerkennen, die unter schwierigen Bedingungen Wissenschaft betreiben.“ Text MARLENE HALSER „ MANGELNDE FREIHEIT SCHRÄNKT DIE SELBST­ REGULIERUNGS­ KRÄFTE DER FORSCHUNG EIN. ten auf Repression gefunden“, sagt Kinzel- bach und verweist auf Programme wie die Philipp Schwartz-Initiative der Humboldt- Stiftung für gefährdete Forschende. Kinzel- bach ist dem Programm als Mitglied im Aus- wahlausschuss eng verbunden. „Strukturell und institutionell betrach- tet sind aber noch viele Fragen offen“, sagt sie. Wie können Partnerschaften mit Uni- versitäten aussehen, deren Forschung durch enge politische Vorgaben gesteuert wird? Das größte Problem bestehe selbstverständ- Foto: FAU/Pöhlein 17 HUMBOLDT KOSMOS 115/2023

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