Nr. 115/2023

E s gibt nicht viele internationale Marken, die sich in den vergan- genen 70 Jahren treu geblieben sind. Marktbedingungen verän- dern sich immer rascher und radikaler. Dis- ruption mischt die Karten neu. Firmen, die nicht schnell genug auf technischen Wandel reagieren, verschwinden. Deshalb sind ehema- lige Marktführer wie der Filmhersteller Kodak Geschichte. Oder sie sind, so wie der finnische Hersteller Nokia, bedeutungslos in ihrer ehe- maligen Paradedisziplin. Selbst heute mäch- tige Techfirmen wie Meta (ehemals Facebook) oder Alphabet (Google) sorgen sich, wie lange ihr Geschäftsmodell noch tragen mag, da KI die Onlinewelt verändert. Wollte man die Alexander von Humboldt- Stiftung mit einer Marke vergleichen, dann vielleicht mit Coca-Cola. Der amerikanische Konzern verkauft seit Jahrzehnten weltweit erfolgreich Limonade. Mal mit Zucker und Koffein, mal ohne, aber im Grunde bis heute unverändert nach dem gleichen angeblich in einem Tresor verstauten Geheimrezept. Wie der Softdrinkgigant hat die Stiftung ihr Angebot seit ihrem Gründungsjahr 1953 nie grundlegend geändert: Sie vergibt Stipen- dien und Preise an talentierte Nachwuchsfor- schende und Spitzenwissenschaftler*innen aus der ganzen Welt, die mit der Förderung der Stiftung nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten und Teil eines weltweiten For- schungsnetzwerks zu werden. Woran liegt es, dass dieses Angebot bis heute erfolgreich ist? Hat auch die Stiftung ein eigenes, streng gehütetes Geheimrezept? Der erste Teil der Erfolgsformel hat wenig Geheimnisvolles. Es sind die Anpassungsfä- higkeit der Stiftung und der Wille, Verände- rungen anzutreiben (siehe Zeitleiste): von der Erfindung der Willkommenskultur über die Einführung der millionenschweren Alexan- der von Humboldt-Professur zur strategischen Internationalisierung deutscher Universitäten bis hin zu Schutzprogrammen für bedrohte Forschende oder dem Crowd Reviewing, das das Gutachtensystem entlasten soll. Der zweite Teil der humboldtschen Erfolgs­ formel beinhaltet dagegen Zutaten, die in ihrer Zusammensetzung einzigartig und seit 70 Jah- ren tatsächlich unverändert sind. Anders als die meisten Forschungsförderer unterstützt die Stiftung nämlich keine Projekte, sondern Personen. Und dies dauerhaft, meist ein gan- zes Forscherleben lang. Sie schenkt Vertrauen und Freiheit ohne Ansehen von Disziplinen oder Nationalitäten und pflegt ein Netzwerk in mehr als 140 Ländern. Zugleich betrachtet sie Forschung als Mittel der Völkerverständi- gung und der Diplomatie. Dabei ist das Konzept der Annäherung durch Dialog zuletzt in die Kritik geraten. Bedeuten der Krieg Russlands gegen die Ukra- ine, Systemkonflikte mit Staaten wie China und der Trend zur Deglobalisierung eine Disruption, die die Art der grenzüberschrei- tenden Forschungszusammenarbeit grund- sätzlich verändern kann und damit auch das Erfolgsrezept der Humboldt-Stiftung? Die Stiftung reagiert hierauf, indem sie ihre Instrumente schärft, um faire Zusammen- arbeit in puncto Datenschutz und geistiges Eigentum zu sichern und Fälle von Dual Use, also die militärische Anwendung von For- schungsergebnissen, auszuschließen. Doch an ihrer Grundformel will sie nichts verändern. Sie setzt weiter auf internationalen Austausch und die Freiheit der Wissenschaft. Die anhaltend hohe Nachfrage nach Hum- boldt-Stipendien, das Renommee, die in Eva- luationen belegte positive Wirkung auf den wissenschaftlichen Ertrag und die grenzüber- schreitende Vernetzung sowie nicht zuletzt das positive Feedback der Geförderten selbst belegen die Wirksamkeit und Attraktivität der Rezeptur. Vertrauen, Freiheit und unter- schiedliche Perspektiven befeuern wissen- schaftliche Leistung und Kreativität. Beides wird dringend benötigt, um die grenzüber- schreitenden Herausforderungen zu bestehen, seien es der Klimawandel, alternde Gesell- schaften, Pandemien oder die gesellschaftli- chen Auswirkungen neuer Techniken wie der künstlichen Intelligenz. Die Marke Humboldt wird weiter gebraucht. ALEXANDER VON HUMBOLDT- STIFTUNG 1953 Mission: Vertrauen schaffen Im ersten Jahr nach der Gründung kommen 78 Stipendiat*innen nach Deutschland. Die General- sekretärin begrüßt jede*n Einzelne*n per Handschlag. Das Bild von Deutschland ist noch geprägt von den Kriegsjahren und der Nazizeit. Für die Stif- tung heißt die vorrangige Auf- gabe: Vertrauen gewinnen. Der Physiker Werner Heisenberg ist der erste Präsident der Stiftung und einer von mehreren Nobel- preisträgern in diesem Amt. 1959 Erste Lücken im Eisernen Vorhang 1959 kommen mit einem Polen und einem Ungarn die ersten beiden Stipendiaten aus dem Ostblock. Eine diplo- matische Leistung. Denn Reise- freiheit ist ein Fremdwort und ein Forschungsaufenthalt im feindlichen Westen eine abso- lute Ausnahme. 1972 BMWs für die klugen Köpfe aus den USA Zunächst nur für Naturwissenschaftler*innen aus den USA wird 1972 der Hum- boldt-Forschungspreis einge- führt. Damit erreicht die Stif- tung nun auch erfahrene Forschende. Die Dotierung am Anfang: 6.000 DM und Sonder- konditionen beim Kauf eines BMW, von denen etwa jede*r dritte Preisträger*in begeistert Gebrauch macht. 1981 Stammgäste im Garten des Präsidenten Seit 1955 bis heute empfängt der Bundespräsident die aktuellen Humboldtianer*in­ nen im Sommer zur Jahresta- gung im Garten seines Amtssit- zes. Längst ist die anfangs überschaubare Besucherschar auf über tausend Humboldtia­ ner*innen mit Kind und Kegel angewachsen. 1996 Entwicklungspolitik rückt auf die Agenda 1996 entsteht mit dem Georg Forster-Stipendium ein Angebot speziell für die Bedürfnisse in Entwicklungs­ ländern. Es soll dem gegensei- tigen Transfer von Methoden und Wissen dienen. 70 JAHRE Foto: Getty Images HUMBOLDT KOSMOS 115/2023

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