Nr. 114/2022

In den 1990er-Jahren kam mir die deutsche Gesellschaft homogener vor, in Teilen geprägt von Angst vor Zuwande- rung. Als Ausländer*in fühlte man sich ausgegrenzt. Jetzt kamen wir in ein Land, das nicht nur offen ist, sondern Diver- sität begrüßt und davon profitiert. Vielfalt begegnet einem überall – und niemanden kümmert es, so war zumindest unser Eindruck. Ich glaube, die gewachsene europäische Gemein- schaft hat maßgeblich zu diesem Wandel beigetragen. Doch auch Deutschlands Unterstützung für Menschen in Not aus Kriegsländern, die in der Praxis sicherlich herausfordernd ist, verdient höchste Anerkennung. 1993 war die Berliner Mauer noch weitgehend intakt, ebenso die imaginäre Linie, die das Land in zwei Hälften geteilt hat. Die Gegensätze zwischen den Städten in Ost und West, der Ausdruck in den Gesichtern der Menschen auf den Straßen spiegelten diese Kluft wider. Jetzt hatte ich den Eindruck, dass die Deutschen die immense Herausforderung der Wiedervereinigung auf ganz erstaunliche Weise bewältigt haben. Die imaginäre Linie ist verblasst. Die erste deutsche Bundeskanzlerin ist tatsächlich im Osten auf­ gewachsen! Während sich Länder auflösen, Gesellschaften in Extreme zerfallen, scheinen die Deutschen in der Lage gewesen zu sein, die Differenzen zu überwinden, sich zu vereinen, zusammenzuschließen. Eine weitere Veränderung, die wir beobachten konnten, ist, wie die Deutschen Kinder wahr­ nehmen. Das lässt nicht zuletzt auf die verbes- serte Stellung der Frau in der deutschen Gesellschaft schließen. In den 1990er-Jahren gab es kaum Kindergärten – man erklärte uns, dass Mütter eine Arbeitspause einlegen, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Babys waren in Bars oder Restaurants nicht willkom- men, Hunde hingegen schon. Auch bei kritischen Fragen rund um den Klimawandel, Nachhaltigkeit und den Umgang mit den schwinden- den Ressourcen unseres Planeten hat sich viel getan. Diese Themen sind inzwischen in vielerlei Hinsicht präsent, ob durch die zunehmende Zahl von Bioläden, die Wochenmärkte oder die Fridays for Future-Demonstrationen am Brandenburger Tor. Solchen Wandel sahen wir, wann immer wir durch die Straßen gingen (wobei sich auch die von einem Jahr zum nächsten zu ändern scheinen). Und da wir während der COVID-Pandemie in Deutschland waren, sollte ich noch erwähnen, dass dies für uns kein großes Problem darstellte. Die Deutschen sind sehr praktisch veranlagt. Und so konnte man sein Leben fast normal weiterführen. Im Vergleich zu Argentinien fand ich die 2021 1994 KINDER Wie die Deutschen Kinder wahrnehmen, hat sich in den letzten 25 Jahren gewandelt. In den 1990ern musste mit Plakaten geworben werden, Zeit mit ihnen zu verbringen. 32 HUMBOLDT KOSMOS 114/2022 DEUTSCHLAND IM BLICK

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