Nr. 114/2022
W ürden Sie bei Anzeichen einer Depres- sion lieber einenMenschen anrufen oder eine Maschine? Das Start-up clare&me setzt eindeutig auf letztere Antwort. Bei dessen psychologischer Telefonhotline meldet sich Clare, ein Phonebot, wie man ihn von Kundenservices oder der Auskunft kennt. Der Bot verfügt über einen KI-Algorith- mus und reagiert auf Schlüsselwörter: Spricht der*die Anrufer*in etwa über ihre*seine Angst, schlägt Clare ent- sprechende Übungen vor. Derzeit wird die App in Großbri- tannien getestet. ImHerbst soll sie auf denMarkt kommen. Clare soll als Notfallhilfe dienen, als Unterstützung während der Wartezeit auf einen Therapieplatz. Die wird nämlich immer länger. Im Jahr 2021 verzeichnete die Deut- sche PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) anlässlich der Coronapandemie eine Zunahme von Therapieanfragen um mehr als 40 Prozent, bei Kindern und Jugendlichen sogar um mehr als 60 Prozent. Im selben Jahr warnte der Verband vor den mentalen Folgen des fortschreitenden Klimawandels. Nun kommen Ängste rund um den Krieg Russlands gegen die Ukraine hinzu. „Die Menschen sind überlastet“, erklärt Enno Maaß, stellvertretender Bundes- vorsitzender der DPtV. Er schätzt die Wartezeit auf einen Therapieplatz in der Stadt auf zwei bis drei Monate. „Auf dem Land müssen Sie eher von einem halben bis zu einem Dreivierteljahr ausgehen.“ Die Wartezeiten und die wachsende Nachfrage haben eine Welle neuer digitaler Angebote zur mentalen Gesund- heit ausgelöst. Viele davon gibt es sogar auf Rezept. Sie hei- ßen etwa HelloBetter, moodgym, deprexis oder Selfapy und bieten in Form von Apps Onlinekurse gegen Stress, PRAXIS „TUT MIR LEID, DASS DU DAS DURCHMACHST“ Wer Depressionen hat oder andere psychische Symptome verspürt, könnte sich bald von einer künstlichen Intelligenz helfen lassen. Wird KI am Ende sogar den*die Psychotherapeut*in ersetzen? von MIRKO HEINEMANN Motive wie das der nachWeltherrschaft strebenden bösen KI sorgen für Unbehagen. Um zu vertrauen, wäre es hilf- reich zu verstehen, wie KI denkt, wie sie Einschätzungen und Entscheidungen trifft. Doch das ist nicht so einfach. Die meisten modernen KI-Systeme sind Blackbox-Modelle: Sie bekommen einen Input und liefern einen Output. Sie erkennen einen Hund oder eine Katze, ein Stoppschild oder ein Tempolimit, einen Tumor oder eine seltene Krankheit. Aber wie sie das tun, bleibt ihr Geheimnis. „Neuronale Netzwerke sind undurchschaubar“, sagt Daniel Rückert. „Wenn wir Messvorgänge automatisie- ren wollen, können wir dem Radiologen zeigen, wie der Computer das Volumen des Tumors anhand der Maße auf dem Bildschirm berechnet hat. Der Radiologe sieht es ja auch selbst und kann beurteilen, ob das stimmen kann oder nicht. Wir müssen nicht genau erklären, wie wir zur Abgrenzung des Tumors kommen. Problematisch wird es jedoch, wenn Sie zum Beispiel die Ergebnisse ihres KI- Modells benutzen wollen, um neue Hypothesen darüber aufzustellen, wie sich die Krankheit entwickeln wird oder was die Ursprünge der Krankheit sind.“ Manchmal mache es ihmAngst, sagt Christian Becker- Asano, dass sich einige in der Wissenschaft damit zufrie- dengeben, dass etwas funktioniert, ohne die Hintergründe zu verstehen. Das führt zu KIs, die meistens funktionieren, aber in manchen Situationen dann plötzlich nicht mehr. „Wir kommen insgesamt zu großartigen Ergebnissen bei praktischen Anwendungen, aber es passieren mys- › Wir verstehen nicht, warum immer wieder mysteriöse Fehler auftauchen, weil wir nicht wissen, was im Inneren des Algorithmus passiert. Christian Becker-Asano, Professor für Künstliche Intelligenz an der Hochschule der Medien, Stuttgart SCHWERPUNKT 16 HUMBOLDT KOSMOS 114/2022
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